Internationale Maifestspiele; wiesbadener tagblatt, 17.05.2016
Es fährt ein Zug nach Nirgendwo – „Reise nach Petuschki" mit Jasna Fritzi Bauer und Daniel Sträßer
Von Julia Anderton
WIESBADEN - Da steht sie. Die Flasche. Strahlend, klar, irgendwie
unschuldig. Doch Obacht: Machen Sie bloß nicht den Fehler, einfach so
einen zu kippen. Wer nicht das geringste wissenschaftliche Interesse am
korrekt ausgeführten Alkoholkonsum mitbringt, braucht nicht zu jammern,
wenn exzessives Flaschenleeren im großen Kotzen endet.
Wenja ist da ganz anders. Penibel hat er Auswege aus dem Dilemma
erforscht, taktet gekonnt Wurstsemmeln zwischen seine Rationen, um das
Erbrechen zu verhindern, oder nimmt ideelle Schlucke zu sich. Und lässt
schlussendlich doch nur ein giftiges Gebräu im Magen umherschwappen:
„Schmerz und Angst und dann da noch Stummheit", konsterniert in einem
seiner klaren Augenblicke. Der Säufer und seine Flaschen sitzen in
einem Zug, der ihn raus aus dem tristen Moskau ins paradiesische
Örtchen Petuschki bringen soll – der letzte Versuch, seiner Existenz
doch irgendetwas Positives abzugewinnen. Den behaglichen Job als
Telefonkabelverleger, der hauptsächlich aus Glücksspiel und – na klar –
Suff bestand, hat er durch ein Missgeschick seines Kollegen, dem ollen
Kackvogel, verloren; in Petuschki erwartet ihn immerhin die Liebe in
der vagen Gestalt eines Mädchens mit „einem Zopf bis zum Hintern".
Daniel Sträßer gibt den Anti-Helden in dem viele Jahrzehnte in der
Sowjetunion verbotenen Werk „Die Reise nach Petuschki" von
Außenseiterliterat Wenedikt Jerofejew bestechend sympathisch als großen
Jungen im Fellmantel mit Fake-Schnauzer, dem das Stirnband ebenso
verloren über die Strubbelhaare rutscht, wie sich die Haltlosigkeit als
roter Faden durch sein Leben zieht. Ein reizender Loser, der für seine
Sache – den Alkohol – brennt. Je selbstbewusster er im Zug nach
Nirgendwo mit jedem Schlückchen wird, umso surrealistischer wird das
Geschehen auf der Bühne.
Collageartig entstehen fiebrige Begegnungen mit dem weiteren Personal,
allesamt bravourös dargestellt von Jasna Fritzi Bauer, die als
gebürtige Wiesbadenerin mit dem IMF-Gastspiel des Wiener Burgtheaters
im Staatstheater-Studio ihr erstes Heimspiel in der alten Wirkstätte
gab. „Tach, ich bin ein Engel!", stellt sie sich blond perückt und
adrett gewandet vor und begleitet Wenja durch die absurden Stationen
seiner Reise, verhöhnt und bestärkt ihn, wird zum debilen Flaschendieb,
zur mysteriösen Sphinx, zum hölzernen Inquisitor. Und trinkt stets brav
mit – so wie es offenbar ein jeder Mensch in Wenjas Universum tat und
tut, den Geheimrat Goethe mal ausgenommen. „Wir sind doch alle
betrunken, jeder auf seine Art und Weise", weiß der Engel.
Das Delirium endet nach 70 Minuten in einer entsetzlichen Gewalttat
gegen Wenja, die zugleich seine Erlösung darstellt. „Ich behaupte
nicht, dass ich die Wahrheit erkannt hätte. Doch ich betrachte, erkenne
und bin schmerzerfüllt." Ja, das ist furchtbar traurig, wenns halt
nicht so lustig wäre: Die glänzend aufspielenden Jungstars lassen in
der Inszenierung von Felicitas Braun der Situationskomik ihren Raum,
insbesondere die abstruse Schluckaufprobe (bei der Sträßer tatsächlich
anderthalb Liter nahezu auf Ex kippt) bezaubert nachhaltig – da hätte
es die Wodkaflasche und die Knuddler fürs Publikum gar nicht mehr
gebraucht. Nett war es trotzdem. Langer Schlussapplaus für eine ebenso
sensibel wie launig ausbalancierte Gratwanderung.
Zeitungskritik kurier vom 27.02.2014
Eine Reise ins Delirium: Daniel Sträßer und Jasna Fritzi Bauer begeben
sich im Burgtheater Vestibül auf die "Reise nach Petuschki".
Jede Zugreise hat üblicherweise ein Ziel. Doch was tun, wenn das Ziel
vor den Augen des Reisenden immer mehr verschwimmt, oder gar Kilometer
für Kilometer weiter in die Ferne zu rücken scheint?
Das Burgtheater widmet sich in seiner neuen Studioproduktion einem der
großen Außenseiter der russischen Literatur und bringt Wenedikt
Jerofejews fiebriges Roman-Poem "Die Reise nach Petuschki" auf die
Bühne des Vestibüls.
"Fahr nach Petuschki, fahr doch! Petuschki – das ist deine Rettung und
deine Glückseligkeit. Fahr los!“ heißt es, als Hauptfigur "Wenja"
(gespielt von Daniel Sträßer) am Kursker Bahnhof von Moskau steht. Er
will seine Geliebte besuchen und hat sich für die Zugfahrt (im Vestibül
dauert sie 1:15 Minuten) jede Menge hochprozentigen Alkohol eingepackt.
Dementsprechend trinkt sich Wenedikt immer mehr ins Delirium. Was ihn
nicht davon abhält, mit den Mitreisenden über die Sozialdemokratie zu
streiten, oder zu erörtern, ob Goethe ebenso ein Alkoholiker gewesen
sei wie Schiller. Für das Zugticket gibt der Profi-Säufer und Brigadier
im Fernmeldewesen keine Kopeke aus. Denn: "Im Grunde genommen hat auf
der Strecke nach Petuschki keiner Angst vor den Kontrolleuren, weil
alle ohne Fahrschein sind". Warum sie keine Angst haben brauchen? Der
Schaffner will gar kein Geld für die Fahrt, sondern lässt sich mit
Wodka abfinden. Damit kann Wenedikt dienen.
Wenedikt Jerofejew († 1990) teilte mit seiner desperaten Hauptfigur nicht nur den Vornamen, sondern auch den Alkoholismus.
Sein 1969 verfasster Roman, der erst 1988 in Russland veröffentlicht
wurde, war in der Sowjetunion lange verboten. Zu unbotmäßig waren die
surrealen Inhalte, aber auch die Schilderungen des stupiden
Arbeitsalltags in der Planwirtschaft. Angepasstheit sucht man in dem
Text vergeblich. Selbst der Zug scheint nicht in die korrekte Richtung
zu fahren.
"Wenja" ist zwar der Protagonist des Romans, durch seine zunehmende
Benebelung spielen allerdings die Dinge um ihn herum zusehends die
Hauptrolle. Und für dieses Drumherum sorgt auf der Bühne Jasna Fritzi
Bauer im Alleingang.
Die quirlige Berlinerin spielt sämtliche Nebenfiguren und halluzinierte
Fabelwesen, steuert mit einem Overhead-Projektor das Licht und bemalt
die darauf liegenden Folien. Bauer wechselt immer wieder die
Verkleidung, versorgt den Reisenden literweise mit Alkohol, verteilt
die Requisiten auf der Bühne und lässt es sogar schneien. Kurz: Sie
verkörpert gewissermaßen "das Theater" - zumindest an diesem Abend.
Noch wichtiger: Sie unterstützt die lethargisch wirkende Hauptfigur
nicht nur mit diesen Helferleintätigkeiten, sondern mit enormer
Bühnenpräsenz.
"Yeah! Bewältigung!"
Felicitas Braun setzt das Collagenhafte des Romans in ihrer ersten
Regiearbeit am Burgtheater mit viel Fantasie und Mut zu improvisiert
wirkenden Einfällen um. Musikalisch untermalt wird das skurrile
Nicht-Geschehen mit Ukulele-Klängen und Liedern aus der russischen
Folklore ("Kalinka") und aus der Popkultur ("All the Things She Said"
von t.A.T.u.). Was "Reise nach Petuschki" zugleich zum Lob und zum
Abgesang auf die rauschhafte Jugend macht. "Yeah! Bewältigung!"
skandiert Daniel Sträßer immer wieder.
Hier und da stockt die Zugfahrt etwas - wenn etwa die Theorien zur
Bekämpfung von Schluckauf allzu sehr ausufern. Der
Performance-Charakter der Inszenierung lässt den Schauspielern aber
ausreichend Raum für Nachschärfungen.
Ein Hinweis noch: Früher kommen! Vor dem Beginn der eigentlichen
Aufführung hält Jasna Fritzi Bauer einen erfrischenden Vortrag über
"Das Bild der Eisenbahn in der russischen Literatur". Nüchtern wirkt an
diesem Abend nicht einmal der wissenschaftliche Text eines Slawisten
und Osteuropahistorikers.
Zeitungskritik im Hamburger Abendblatt:
„Im Wodka- und Beziehungswahn
Von Annette Stiekele
Die Inszenierung "Die Reise nach Petuschki" etwa vom Wiener Burgtheater
erweist sich als absolutes Kleinod. Zwei talentierte Jungstars glänzen
in der Regie von Felicitas Braun, die aus dem gleichnamigen Roman des
Außenseiterliteraten Wenedikt Jerofejew eine einfallsreiche, durchaus
gewollt improvisiert wirkende Collage gemacht hat.
Daniel Sträßer begibt sich im Fellmantel als Hauptfigur Wenja vom
Kursker Bahnhof in Moskau aus auf die Reise, um seine Geliebte zu
besuchen. Doch die Zugfahrt entwickelt sich zur hochprozentigen
Deliriumstour, bei der Wenja auf skurrile Begleiter trifft, die
allesamt von der apart uniformierten, blond perückten Jasna Fritzi
Bauer, mal als Wissenschaftler, mal als Engel, mal als Sphinx,
verkörpert werden.
Mit viel situativ bedingtem Humor zeichnen beide das sensible
Kaleidoskop einer Reise, die sich letztlich als Wahnvorstellung
herausstellen wird. Und auch die Zuschauer lassen bei der Aufführung
die leuchtende Wodka-Flasche kreisen.“
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article128777612/Im-Wodka-und-Beziehungswahn.html