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Lucas and Time
von Niki Orfanou
am Stadttheater Osnabrück
Premiere am 28.8.2016
Mit: Elaine Cameron und Monika Vivell
Regie: Felicitas Braun
Bühne: Timo von Kriegstein
Kostüm: Aleksandra Kica
Dramaturgie: Maria Schneider

Honig im Kopf, Seele entflammt Uraufführung: „Lucas and Time“ über Sein, Zeit und die Kraft des Erzählens
Von Werner Hülsmann
Osnabrück (ON) – Theater. Modernes Theater. Keine Zumutung, aber ein
Stück, das dem Zuschauer etwas zumutet; besser gesagt, etwas zutraut.
Das ist ein fast schwebender Free Jazz der Worte, Pingpong der
Emotionen – eine gewisse Assoziationsbereitschaft sollte man
mitbringen. Nach 62 Minuten ist alles vor- bei, die Uraufführung „Lucas
and Time“ pulsiert datenbefreit zwischen Dasein, Dialog, Demenz und
Dilemma.
Das Stück würde gut ins ex- perimentierfreudige Festival „Spieltriebe"
passen, das Emma-Theater ist der ideale Spiel- ort. Ein explosives
Zirkeltrai- ning für die Gehirnzellen. Felicitas Braun hat diese
rasante, aber keineswegs leicht zu fassende Stunde inszeniert(...) Das
poeti- sche Stück über Sein, Zeit und die weltenschaffende Kraft des
Erzählens stammt von der Griechin Niki Orfanou, Jahrgang 1977. Getragen
wird der Text von zwei wirklich großartigen Schauspielerinnenm – die
faszinierende Bühnenpräsenz von Monika Vivell wird hier einmal mehr
bestätigt, Elaine Cameron, neu im Ensemble, agiert mit nuancier- tem
Spiel auf Augenhöhe.
Lucas ist der kleine Junge, der versucht, seinem Vater zu entkommen und
in dem Spuk- haus nebenan verschwindet. Er spielt die zentrale Rolle in
Geschichten, die zwei Frauen einander erzählen, um dem Fluss der Zeit
etwas für sich zu entreißen: eine Erinnerung, eine Erfindung, eine
Begierde. (...)
Wer ist dieser Lucas? Diese Frage ist eindeutig der rote Faden, der
durch die sieben Szenen des Stücks führt. Antwort? Nee, da irrt man
durch das Labyrinth, Lucas ist eine von den Personen mit Sprache und
An- deutungen gefüllte Leerstelle. Abwesend und anwesend – das Leben
ist immer wieder auf dem Prüfstand, gerne legt man es sich auch
zurecht, wie man es gerade braucht. Oder? Wir erzählen und erfinden uns
täglich immer wieder neu, je nach den Anforderungen der aktuellen
Situation
Nicht nur die Identität des abwesenden Lucas wird offen- gehalten, auch
die der beiden Frauen, die auf der Bühne in verschiedene Charaktere
schlüpfen, munter Zeitebenen und sogar untereinander die Perspektive
wechseln. Sie erzählen von einem Picknick mit Lucas, ihrem Geliebten,
erinnern sich an Lucas, ihren kleinen Bruder und wie er im Märchen von
ihrem bösen, alkoholisierten Vater gejagt wurde. Albträume und Wünsche
– Lucas ist ein Samenkorn, das in jeder Szene keimen kann.
„Er ist eine abwesende Figur, ein Mechanismus, um eine Erzählung zu
konstruieren, und ein Katapult für die Vorstellungskraft“, sagt Autorin
Niki Orfanou. Die Inspiration für den Namen habe sie aus aus dem
Gedicht „Besuch“ von Ted Hughes.
In der fulminanten Schluss-Szene, wo sich ein Parallelslalom
entfesselter Stimmen (die beiden Darstellerinnen mit einer atemlosen
Punktlandung ohne Netz und Boden) um ein Feuer entlädt, löst sich
dentität gänzlich auf – gemeinsam er-wartet man wohl einen Gastgeber,
der natürlich auch Lucas sein könnte. Honig im Kopf, das Ticken der
Uhr, Regentropfen ... Nichts ist für die Ewigkeit. Das Leben – alles
offen?


70 Minuten, die sich lohnen
Intensive Urauführung im Emma-Theater: „Lucas and Time"
Begeisterten Applaus hat die Uraufführung von „Lucas and Time" im
Emma-Theater geerntet. Großartig dabei: Die beiden Darstellerinnen
Elaine Cameron und Monika Vivell.
Wer ist dieser Lucas? Die Frage bleibt ungeklärt. Vermutlich hatte die
junge Regisseurin Felicitas Braun bei ihrer ersten Inszenierung am
Theater Osnabrück auch gar nicht im Sinn, Antworten zu geben. Sie
überlässt es bei der Uraufführung des Stückes „Lucas and Time“ der
griechischen Autorin Niki Orfanou im Emma-Theater dem Zuschauer selbst,
sich seine Gedanken zu machen. Und sie hat ihren beiden Darstellerinnen
Raum zur Entfaltung gegeben.
Die neu verpflichtete Elaine Cameron gibt damit einen hervorragenden
Einstand. Und Monika Vivell zeigt, wie vielfältig und überzeugend sie
auf der Bühne gestaltet. Die beiden schlüpfen in die
unterschiedlichsten Rollen von der jungen Frau bis zur dementen Alten,
von 40er-Jahre-Sektretärinnen, die mit mörderischen High Heels
überdrehter Haartolle und schrill ausladendem Rock (Kostüme: Aleksandra
Kica) über die Bühne stöckeln, bis zu Krankenschwestern. Und immer im
Hintergrund: Lucas. Eine Projektion, eine Fantasie, eine Figur, die
ihre Konturen verändert, je nach dem, welche Frau gerade von ihm
erzählt. Er dämmert mal als lässige Lover auf, mal als fahle Erinnung,
mal als verschreckter Junge, der vor einem strengen Vater durch den
Garten flüchtet - aber richtig greifbar wird er nie.
Timo von Kriegstein hat dazu die Bühne mit ein paar wenigen Accessoires
ausgestattet: Zwei alte Reiseschreibmaschinen, ein paar Stühle, eine
Gespinst aus Wäscheleinen. In verlockendem goldenen Licht aber steht
hinten ein Kokon aus alten, nackten Federmatrazen: Bettengruft für die
demente Alten und Schminkzimmer für die schrillen Sekretärinnen.
Orfanous Stück wirft dabei eher Schlaglichter, als dass es eine
stringende Schichte erzählt. Motive scheinen auf und verdämmern wieder,
Passagen werden wörtlich und varriert wiederholt und verleiht den
sieben Szenen damit Struktur und Form: Der Rahmen, den die Regisseurin
und vor allem die beiden Darstellerinnen fantastisch füllen. Sie
erzeugen Beklemmung und legen grotesken Humor an den Tag, entwerfen
surreale Bilder und solche von kalter Realität. Zudem spielen Cameron
und Vivell mit mitreißender Energie, legen zum Beispiel ein furioses
Finale hin, in dem sie den Text zu einer Art homophoner Mehrstimmigkeit
auffächern. Dem Premierenpublikum war davon begeistert, bestätigen
müssen sich Inszenierung und Stück freilich in den weiteren
Aufführungen. Aber die rasanten 70 Minuten lohnen sich.
(Ralf Döring, Neue Osnabrücker Zeitung)


